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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2011 — 2012

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I. Das Geschäftsjahr 2011
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Antrittsreden
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Pauen, Sabina: Antrittsrede von Frau Sabina Pauen an der Heidelberger Akademie der Wissenschaften vom 23. Januar 2011
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https://doi.org/10.11588/diglit.55657#0141
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ANTRITTSREDEN

dominierte die Vorstellung, das erste Lebensjahr sei primär der Reifung von körper-
lichen Strukturen gewidmet, so dass die Hauptaufgabe von Erziehungspersonen
darin bestehe, für ausreichend Nahrung und Ruhe sowie frische Hosen zu sorgen.
Dieses Bild vom Baby hat sich inzwischen drastisch gewandelt. Heute sprechen wir
vom „kompetenten Säugling“ sowie von angeborenem Kernwissen in den Berei-
chen Mathematik, Physik und Psychologie. Was hat diesen Wandel herbeigeführt und
welche Indizien sprechen dafür, schon l-jährigen Denkleistungen zuzuerkennen?
Mit diesen Fragen beschäftigt sich mein Vortrag, dessen Inhalte ausführlicher in der
Monographie Pauen (2006) dargelegt sind.
Die Anfänge der Säuglingsforschung
Begonnen hat die die moderne Säuglingsforschung mit der genauen Beobachtung
von Babys im Alltag. Tagebuchaufzeichnungen des Verhaltens der eigenen Kinder
dienten Jean Piaget als Grundlage für die Konzeption seiner bahnbrechenden
Theorie der geistigen Entwicklung. Dieser Theorie zufolge kommen Babys mit
einfachen Wahrnehmungsschemata und motorischen Reflexen auf die Welt. Indem
sie ihre Reflexe in Interaktion mit der Umwelt nutzen, machen sie sich bestimmte
Teilaspekte zu eigen (Assimilation) und passen gleichzeitig ihre eigenen Handlungs-
schemata an die Umwelt an (Akkomodation). Zum Beispiel führt der Greifreflex
dazu, dass sie Objekte fassen können und dann ihre Fingerhaltung an die Form
des Objektes anpassen. Nachdem Kinder früh gelernt haben, einfache Effekte zu
reproduzieren, beginnen sie nach und nach, verschiedene Schemata zu verknüpfen.
Parallel dazu entsteht die Fähigkeit, Objekte auch dann geistig zu repräsentieren,
wenn sie der eigenen Wahrnehmung aktuell nicht zugänglich sind. Das zeigt sich
etwa daran, dass das Kind nun aktiv nach Gegenständen sucht, die vor seinen Augen
unter einem Tuch verdeckt werden. Diese Fähigkeit ist ab Ende des ersten Lebens-
jahres nachweisbar und wird in der Literatur als Objektpermanenz bezeichnet. Sie ist
der erste Beleg dafür, dass das Kind sich Dinge vorstellen kann. Im nächsten Schritt
werden komplexe Handlungsschemata verinnerlicht. Das Kind stellt Prozesse, die es
in der Außenwelt wahrnimmt, über Körpergesten nach und entwickelt so gegen
Ende des zweiten Lebensjahres die Symbolfunktion, welche ihrerseits eine wesentliche
Voraussetzung für den Spracherwerb darstellt. Denken entsteht nach Vorstellung
Piagets’ also aus verinnerlichten Handlungsschemata mit oder ohne vorgestellten
Objekten.
Verfolgt man dieses Argument konsequent weiter, so würde das bedeuten, dass
das Kind nur über jene Aspekte nachdenken kann, mit denen es sich handelnd aus-
einandergesetzt hat. Wie sich schon bald herausstellen sollte, besteht dabei aber keine
Notwendigkeit dazu, dass es sie buchstäblich „in der Hand“ hatte. „Begreifen“ setzt
nicht notwendigerweise eine „Greifhandlung“ voraus. Diese Erkenntnis verdanken
wir der Entwicklung neuer Methoden zur Erforschung des frühkindlichen Denkens,
die sich subtilerer Verhaltensmaße als äußerlich gut erkennbare motorische Hand-
lungen bedienen.
 
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