Das WIN-Kolleg
337
Ein weiteres Beispiel wäre die herausgezögerte Schwertleite Tristans, die in Gott-
frieds Darstellung viel später vollzogen wird, als Reife und Fähigkeiten des Kandi-
daten suggeriert hätten, und die den Erzähler ins Stocken geraten und auf eine
metanarrative Ebene ausweichen lässt.
Eine Besonderheit höfischer Romane ist das breite Auserzählen einer Eltern-
vorgeschichte mit prospektivem Potential für den Lebenslauf des Protagonisten. So
ist durch die genealogische Verknüpfung im Leben des Vaters das des Sohnes vor-
weggenommen, beginnt die Figurenzeichnung bereits, bevor der Protagonist über-
haupt ins Leben getreten ist. Diese genealogische Verknüpfung ermöglicht es, eine
Figurencharakterisierung über flankierende Erzählstränge zu leisten und Charakter-
züge wie den des ritterlichen Übermuts über die Erzählung vom Vater in den jun-
gen Parzival zu implementieren, ohne ihn selbst in die ritterliche Bewährung aus-
senden zu müssen. Tristan ist ganz ähnlich durch den elterlichen Lebenslauf charak-
terisiert, führt das tragisch-traurige Schicksal seines Vaters nicht nur im Namen mit
sich, sondern setzt sich als puer senex auch in seinem Verhalten von Altersgenossen ab.
Durch die Elternvorgeschichte bekommt die Figurendarstellung eine zusätzliche
Bedeutungsschicht und ist überdeterminiert, da die Lebenserzählung des Sohnes
neben der kausalen Motivation seiner Handlungen durch eine finale Motivation
überlagert wird, die sich aus der genealogischen Festschreibung ergibt. Die Differenz
der einzelnen Lebensphasen des Protagonisten wird kombiniert mit einer über das
Denkmuster der Genealogie gestifteten Identität, die den personalen Lebensweg in
die übergeordnete Identität des Familiengeschlechts einordnet. Erwartungen, die
über das genealogische Prinzip geweckt werden, können in der weiteren Gattungs-
entwicklung des Romans aber auch explizit unterlaufen werden: Im Prosaroman
Melusine beispielsweise dokumentieren die Söhne der Fee ihre überirdische Abkunft
zwar durch ein körperliches Merkmal, doch lassen ihre Lebensläufe keinen direkten
Schluss auf Erfolg oder Verfehlung der Elterngeneration mehr zu.
Nachdem die Textanalysen in den vergangenen beiden Jahren weitgehend
abgeschlossen werden konnten, gilt es in der verbleibenden Projektlaufzeit, die narra-
tologische Seite der Einzelbefunde stärker ins Blickfeld zu nehmen und Schlüssel-
punkte der vormodernen Erzählpraxis im Bereich der Lebensalterdarstellung zu
markieren.
3. Die Erfindung des gefährlichen Alters< in der Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts
Der letzte der vier historischen Schnitte nimmt die beiden Jahrhundertwenden um
1800 und um 1900 in den Blick. Die Suche nach Texten, welche davon erzählen, dass
die mittleren Lebensjahre durch eine krisenhaft empfundene Alternserfahrung
geprägt sind, hat in den letzten Jahren des Projekts gezeigt, dass sich zwei signifikan-
te Konjunkturen in den ersten Jahrzehnten des 19. und nochmals zu Beginn des
20. Jahrhunderts ausmachen lassen. Auf beide Zeiträume lassen sich mehr als zwei
Drittel der gut fünfzig Texte verteilen, die für die Zeit vom ausgehenden 18. bis zum
Ende des 20. Jahrhunderts nachgewiesen werden konnten. Dieser zunächst rein
quantitative Befund erscheint insoweit aufschlussreich, als die Erzählungen von der
337
Ein weiteres Beispiel wäre die herausgezögerte Schwertleite Tristans, die in Gott-
frieds Darstellung viel später vollzogen wird, als Reife und Fähigkeiten des Kandi-
daten suggeriert hätten, und die den Erzähler ins Stocken geraten und auf eine
metanarrative Ebene ausweichen lässt.
Eine Besonderheit höfischer Romane ist das breite Auserzählen einer Eltern-
vorgeschichte mit prospektivem Potential für den Lebenslauf des Protagonisten. So
ist durch die genealogische Verknüpfung im Leben des Vaters das des Sohnes vor-
weggenommen, beginnt die Figurenzeichnung bereits, bevor der Protagonist über-
haupt ins Leben getreten ist. Diese genealogische Verknüpfung ermöglicht es, eine
Figurencharakterisierung über flankierende Erzählstränge zu leisten und Charakter-
züge wie den des ritterlichen Übermuts über die Erzählung vom Vater in den jun-
gen Parzival zu implementieren, ohne ihn selbst in die ritterliche Bewährung aus-
senden zu müssen. Tristan ist ganz ähnlich durch den elterlichen Lebenslauf charak-
terisiert, führt das tragisch-traurige Schicksal seines Vaters nicht nur im Namen mit
sich, sondern setzt sich als puer senex auch in seinem Verhalten von Altersgenossen ab.
Durch die Elternvorgeschichte bekommt die Figurendarstellung eine zusätzliche
Bedeutungsschicht und ist überdeterminiert, da die Lebenserzählung des Sohnes
neben der kausalen Motivation seiner Handlungen durch eine finale Motivation
überlagert wird, die sich aus der genealogischen Festschreibung ergibt. Die Differenz
der einzelnen Lebensphasen des Protagonisten wird kombiniert mit einer über das
Denkmuster der Genealogie gestifteten Identität, die den personalen Lebensweg in
die übergeordnete Identität des Familiengeschlechts einordnet. Erwartungen, die
über das genealogische Prinzip geweckt werden, können in der weiteren Gattungs-
entwicklung des Romans aber auch explizit unterlaufen werden: Im Prosaroman
Melusine beispielsweise dokumentieren die Söhne der Fee ihre überirdische Abkunft
zwar durch ein körperliches Merkmal, doch lassen ihre Lebensläufe keinen direkten
Schluss auf Erfolg oder Verfehlung der Elterngeneration mehr zu.
Nachdem die Textanalysen in den vergangenen beiden Jahren weitgehend
abgeschlossen werden konnten, gilt es in der verbleibenden Projektlaufzeit, die narra-
tologische Seite der Einzelbefunde stärker ins Blickfeld zu nehmen und Schlüssel-
punkte der vormodernen Erzählpraxis im Bereich der Lebensalterdarstellung zu
markieren.
3. Die Erfindung des gefährlichen Alters< in der Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts
Der letzte der vier historischen Schnitte nimmt die beiden Jahrhundertwenden um
1800 und um 1900 in den Blick. Die Suche nach Texten, welche davon erzählen, dass
die mittleren Lebensjahre durch eine krisenhaft empfundene Alternserfahrung
geprägt sind, hat in den letzten Jahren des Projekts gezeigt, dass sich zwei signifikan-
te Konjunkturen in den ersten Jahrzehnten des 19. und nochmals zu Beginn des
20. Jahrhunderts ausmachen lassen. Auf beide Zeiträume lassen sich mehr als zwei
Drittel der gut fünfzig Texte verteilen, die für die Zeit vom ausgehenden 18. bis zum
Ende des 20. Jahrhunderts nachgewiesen werden konnten. Dieser zunächst rein
quantitative Befund erscheint insoweit aufschlussreich, als die Erzählungen von der